90 Jahre Bürgermeister Karl Seitz – Erinnerung an einen Vergessenen

Der heurige November ist voller Anlässe, die ein würdiges Gedenken verdienen: 95 Jahre ist es her, dass am 12. November 1918 die 1. Republik ausgerufen wurde, 75 Jahre, dass am 9. November 1938 Nazischergen und ihre Komplizen jüdische Synagogen zertrümmert und verbrannt haben. Vor 90 Jahren wurde am 13. November 1923 Karl Seitz als Wiener Bürgermeister angelobt. Bis zu seiner gewaltsamen Entfernung aus dem Rathaus im Februar 1934 durch die Austrofaschisten hat Seitz unsere Stadt und ihre Politik maßgeblich geprägt und ihr ein Gesicht verliehen, das bis heute sichtbar ist. Gerade weil die beeindruckende Persönlichkeit von Karl Seitz zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht, möchte ich mein Novembergedenken diesem großen Baumeister des „roten Wien“ widmen.

Dieser Text ist am 13. November 2013 in der Wiener Zeitung veröffentlicht worden.

Nach dem krankheitsbedingten Rücktritt von Jakob Reumann, wird der Volksschullehrer Karl Seitz am 13. November 1923 zum Wiener Bürgermeister gewählt. Am Tag seiner Wahl sind die Titelblätter der Zeitungen gefüllt mit Berichten über den gescheiterten Bräuhausputsch von Adolf Hitler in München. In seiner Antrittsrede vor den Magistratsbeamten betont der volksnahe Seitz: „Was wir als Vertreter des Volkes von den Ämtern wünschen ist einfach gesagt: Der Bürger will nicht als Akt, sondern als Mensch behandelt werden.“

In den 11 Jahren seiner Amtszeit entstehen rund 60,000 Gemeindewohnungen in 350 Wohnhausanlagen, die noch heute das Bild unserer Stadt prägen. „Errichtet aus den Mitteln der Wiener Wohnbausteuer“. Hinter dieser harmlosen Aufschrift auf diesen „Palästen des Proletariats“ verbirgt sich ein tiefer Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen, die sich vehement gegen die progressive Reichsteuer zur Wehr setzen, mit der Finanzstadtrat Breitner das umfangreiche Wohnbauprogramm der Gemeinde Wien finanziert. Mit Hugo Breitner, Otto Glöckel und Julius Tandler verfügte Seitz über ein „Dreamteam der 20er Jahre“, das massgeblich zum Aufbau des „roten Wien“ beitrug. Zum 10-jährigen Jubiläum der Gründung der 1. Republik wird am 12. November 1928 der Grundstein zum Bau des Praterstadions, des modernsten und größten Stadions Europas gelegt, das 1931 anlässlich der Arbeiterolympiade von Karl Seitz eröffnet wird. Der Bau von Stadionbad und Amalienbad, dem größten Hallenbad des Kontinents fallen ebenso in die Ära Karl Seitz, wie die Elektrifizierung der Wiener Stadtbahn und die Versorgung Wiens mit sauberem Strom aus dem Wasserkraftwerk Opponitz. Im September 1926 übernimmt die Gemeinde Wien das Denkmal des Altbürgermeisters auf dem Dr.-Karl-Lueger-Platz. Leopold Kunschak, als Vorsitzender des Kommitees hatte Seitz darum ersucht. Seitz spricht eine respektvolle Eröffnungsrede für seinen langjährigen politischen Gegner in Parlament und Landtag. In seinen Erinnerungen schreibt Seitz dazu: „Dieser Wunsch fiel mir schwer aufs Herz, denn was sollte ich über den Lueger reden? Gegen den ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr gekämpft habe. Und dann führte ich in einer ausführlichen Rede aus, dass Lueger in großen Fragen der Gemeindeverwaltung wirklich das Beste wollte; ich bin lange Zeit zu Dr. Karl Lueger in heftigem Gegensatz gestanden, wir haben viel miteinander gestritten, aber es war kein persönlicher Kampf, es war ein Streit der Meinungen, vielleicht ein Gegensatz der Generationen.“

Am 12. Februar 1934 um 3 Uhr morgens wird Seitz von der Polizei gewaltsam aus seinem Büro im Rathaus entfernt, inhaftiert und wegen Hochverrats angeklagt. Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs und die Zerschlagung der jungen Republik kann Seitz nur noch aus seiner Zelle im Wiener Landesgericht verfolgen. Während andere führende Sozialdemokraten in der Zeit ihrer Inhaftierung ihre Erinnerungen und Memoiren verfassen, studiert Seitz das Werk von Immanuel Kant und korrespondiert mit Thomas Mann. Am 5. Dezember 1934 wird Seitz aus der Haft entlassen, bleibt aber unter ständiger polizeilicher Bewachung. Seine Spaziergänge durch die Straßen Wiens werden für viele zu einem Symbol des Widerstands und Seitz zu einem lebenden Denkmal zur Erinnerung an die Zeit der Freiheit.

Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938 gehört Karl Seitz zu den ersten, die verhaftet werden. Bei seiner Verhaftung soll der SS-Gruppenführer Josef Bürckel Seitz gefragt haben: “Sind Sie der ehemalige Oberbürgermeister Dr. Karl Seitz?“ „Nein“ – „Lachhaft, Sie können das doch nicht leugnen!“ – „Gar nichts leugne ich.“ „Wieso?“ – „In den paar Worten, die Sie da geredet haben, sind nicht weniger als drei grobe Fehler. Erstens bin ich kein Doktor, sondern ein ganz gewöhnlicher Volksschullehrer, zweitens bin und war ich kein Oberbürgermeister. So etwas gibt es in Deutschland. Hier in Wien haben wir es nur zu einem Bürgermeister gebracht, und der bin ich. Und drittens, Ihr allergrößter Fehler. Ich bin kein ehemaliger, sondern ich bin der legal gewählte Bürgermeister von Wien, und einen anderen gibt es nicht.“

In den Nachtstunden des 20. Juli 1944 kommt ein Fernschreiben aus Berlin: „Als politische Beauftragte … werden bestimmt: Karl Seitz, vormals Bürgermeister von Wien..“ Wenig später ist der Putsch gegen Hitler gescheitert und der mittlerweile 74-jährige Karl Seitz wird im berüchtigten Hotel Metropol am Morzinplatz verhört. Er kommt ins KZ Ravensbrück. Im September 1944 wird seine Wohnung in der Rathausstraße 13 durch einen Bombenangriff völlig zerstört. Seine Bibliothek, sein Archiv und seine Memorabilien gehen in Flammen auf. Seitz überlebt das KZ und kehrt am 22. Juni 1945 krank und geschwächt nach Wien zurück. wo ihm von rund 50,000 Menschen ein stürmischer Empfang vor dem Rathaus bereitet wird. Im November 1945 wird Seitz neuerlich in den Nationalrat gewählt und hält im März 1946 eine international vielbeachtete Rede, in der er an die Besatzungsmächte appelliert, das Selbstbestimmungsrecht der Republik Österreich zu akzeptieren. Nur fünf Monate nach den Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag stirbt Karl Seitz am 3. Februar 1950 in seiner Wohnung. Das Denkmal des ersten Staatsoberhauptes der Republik, des großen Bürgermeisters von Wien, nach dem keine Straße und kein Platz in Wien benannt ist, steht im Rathauspark mit Blick auf sein geliebtes Burgtheater, an einer Adresse, die jahrzehnte nach einem seiner größten politischen Widersacher benannt war – am heutigen Universitätsring.

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