Zum 150. Geburtstag von Karl Seitz

Der österreichischen Sozialdemokratie geht es nicht gut. In Umfragen liegt sie nur bei rund 20%. Die ehemalige Massenbewegung ist zu einem Zwerg geschrumpft, dem es selbst bei tief stehender politischer Sonne schwer fällt, einen Schatten zu werfen. Innerhalb der Partei wirken unterschiedliche Kräfte in unterschiedliche Richtungen und viele wissen nicht mehr, wofür die Sozialdemokratie heute noch steht. Auch weil viele nicht  wissen, wofür sie einmal stand. Oft liest man dieser Tage den Aufruf, die Partei möge sich ihrer Wurzeln erinnern. Doch sie erinnert sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Helden.

Karl Seitz 1949 in Schweden. Hinter ihm der junge Bruno Kreisky.

Am 4. September 2019 feiert Karl Seitz, erster österreichischer Staatspräsident und langjähriger Bürgermeister des roten Wien weitgehend unbemerkt seinen 150. Geburtstag. Die Sozialdemokratie täte gut daran, sich an die Worte ihres ehemaligen Vorsitzenden Bruno Kreisky zu erinnern: „Lernen Sie ein bissl Geschichte und dann werden Sie sehen, (…) wie das in Österreich sich damals im Parlament entwickelt hat“. Wer sich mit ebendieser Geschichte beschäftigt, stößt unweigerlich auf den Namen Karl Seitz, den vergessenen Baumeister der Republik auf dessen Schultern auch Bruno Kreisky stand. Ein Blick auf dieses Werk lohnt sich.

Bürgermeister von Wien

Im November 1923 wird Karl Seitz Bürgermeister von Wien. In seiner Zeit entstehen jene rund 60,000 Gemeindewohnungen für 220,000 Menschen, die das Stadtbild von Wien bis heute prägen und das Leben in der Donaumetropole bis heute erschwinglich halten – verglichen mit vielen anderen europäischen Hauptstädten. Das größte Stadion der Welt (Praterstadion), das größte Hallenbad des Kontinents (Amalienbad), die Elektrifizierung der Stadtbahn, die bis dahin schwarz rauchend die Wiener Luft verpestet hatte, der Kampf gegen Tuberkulose und Kindersterblichkeit, der Bau des Wasserkraftwerkes Opponitz für billigen Strom, die Gratiskindergärten von 7h bis 18h, Schulzahnkliniken und die Einführung eines modernen Müllentsorgungssystems sind nur einige der Errungenschaften, die Karl Seitz zusammen mit seinen Stadträten umgesetzt hat. Dabei blieb der stets elegant gekleidete Bürgermeister – der aus einfachen Verhältnissen stammende Seitz war in eine Schneiderlehre gegangen und achtete stets pedantisch auf sein Äußeres – bescheiden und zurückhaltend. Nicht er habe alle diese Taten vollbracht, an diesem „neuen Wien“ hätten viele Männer mitgearbeitet, so Seitz. Er habe lediglich die Ideen auf ihre Verwirklichung geprüft und für die Durchführung gesorgt. Wer waren diese Stadträten in der Ära Seitz? Finanzstadtrat Hugo Breitner, Gesundheitsstadtrat Dr. Julius Tandler, Stadtschulratspräsident Otto Glöckel oder Landtagspräsident Robert Danneberg. Sie alle haben beeindruckende Biographien, viele davon sind – ganz dem Wunsch der Austrofaschisten entsprechend – weitestgehend in Vergessenheit geraten. Eine unverdiente Vergessenheit, denn jede dieser spannenden, vielfältigen und teils tragischen Lebensgeschichten verdient es erzählt zu werden um nicht in Vergessenheit zu geraten. Wir könnten heute viel daraus lernen, denn

„Wer seine Geschichte nicht kennt ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ (George Santayana)

Heuer wird 100 Jahre Rotes Wien zelebriert. Doch auch hier weitestgehend ohne den Namen Karl Seitz zu nennen, zu dem selbst aufmerksamen Genossinnen und Genossen nicht viel einfällt.

Visitenkarte des Kandidaten Karl Seitz für die Wahl in die 3. Kurie, 1901.

Dabei hat das bewegte Leben dieses Mannes prägende Spuren in der Österreichischen Geschichte hinterlassen. Geboren im Jahr 1869 in der alten k.k. Monarchie, dem Vielvölkerstaat mit 50 Millionen Einwohnern, wuchs Seitz im Reich von Kaiser Franz Joseph auf, geprägt von Kirche und Monarchie. Am Gründungskongress der Sozialdemokratie in Hainfeld 1889 ist der junge Lehrer noch nicht beteiligt, aber schon bald holen ihn Viktor Adler und Engelbert Pernerstorfer in die Partei und stellen ihn als Kandidaten der 3. Kurie auf, um „eine Bresche in die Luegerei“ zu schlagen. Seitz hat Erfolg und wird erster sozialdemokratischer Abgeordneter in Niederösterreich, wo er sein Redetalent perfektionieren und Techniken gegen die Überzahl christlichsozialer und konservativer Abgeordneter entwickeln kann. Er avanciert zu einem profunden Kenner der Geschäftsordnung und wird zum Widersacher jenes Mannes, der Adolf Hitler als Vorbild diente: Karl Lueger, Erfinder des politischen Antisemitismus.

„Die junge Republik hat keine Würden zu vergeben, sondern nur Arbeit.“

Wien, März 1927.

Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie wird Seitz Präsident der provisorischen Nationalversammlung und im März 1919 zum ersten gewählten Präsidenten der jungen Republik. In seine Zeit als Präsident fallen die Abschaffung der Todesstrafe, die Einführung des Frauenwahlrechts, das Verbot des Adels, die Änderung des Staatsnamens in „Republik Österreich“, die bis heute gültige Grenzziehung im Burgenland und in Kärnten und die Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain.

Bereits 1906 hätte Seitz Minister unter Kaiser Franz Joseph werden können, doch Seitz lehnte ab. Als Repräsentant der Arbeiterklasse sei es ihm unmöglich eine Funktion zu bekleiden, in der man als „Seine Exzellenz“ angesprochen würde. Regierungen kommen und gehen, Minister wäre er nicht lange, aber Abgeordneter und Arbeiter wolle er noch lange sein, so Seitz. Abgeordneter blieb er schließlich bis zu seinem Tode 1950 und als Vorbild für ihre potentielle Wählerschaft könnte ihn die Sozialdemokratie auch heute noch bedenkenlos vor den Vorhang bitten. Anders als Karl Renner hat sich Seitz nicht für die Ja-zum-Anschluß Kampagne Hitlers instrumentalisieren lassen, anders als Adolf Schärf wohnte Seitz nie in einer arisierten Wohnung, anders als Theodor Körner war Seitz Pazifist und anders als Engelbert Pernerstorfer war Seitz kein Antisemit. Selbst wenn man sich auf die Suche nach dunklen Flecken in dieser Biographie begibt, diese Hände bleiben sauber. Als junger Präsident der ersten Republik, noch ist die Todesstrafe nicht abgeschafft, soll er ein Todesurteil unterzeichnen. Mit den Worten: „Ein Todesurteil unterschreibe ich nicht!“ wirft Seitz die Feder hin.

Als Bürgermeister von Wien eröffnete Seitz in den 20er Jahren unzählige Gemeindebauten. „Erbaut aus den Mitteln der Wohnbausteuer“ lautet die stets gleiche Inschrift auf den Gedenktafeln dieser „Paläste für das Volk“. Bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hof sagt Seitz: „Wenn wir einmal nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“

Bürgermeister Karl Seitz im Auto stehend, auf dem Weg zum brennenden Justizpalast. Im Hintergrund das Rathaus.

Justizpalastbrand

Am 15. Juli 1927 ist es der Wiener Bürgermeister, der auf einem Feuerwehrwagen stehend, vergeblich versucht eine Schneise durch die Menschenmenge zu bahnen, um den brennenden Justizpalast zu löschen. Eine Folge des Justizpalastbrandes ist die Aufrüstung der Bundespolizei durch die christlichsoziale Regierung. Viele der nach dem Justizpalastbrand angeschafften Waffen werden am 12. Februar gegen sozialdemokratische Einrichtungen eingesetzt. Der Karl-Marx-Hof wird mit schwerer Artillerie des Bundesheeres beschossen. Seitz wird in seinem Büro im Rathaus verhaftet, die Mandate der sozialdemokratischen Abgeordneten werden für erloschen erklärt und das Vermögen der Partei wird beschlagnahmt. Doch schließlich wird die austrofaschistische Regierung unter Engelbert Dollfuss, die Parlament und Verfassungsgerichtshof bereits im Frühjahr 1932 ausgeschaltet hatte, nur zum Vorprogramm der nationalsozialistischen Diktatur Hitlers.

Noch am Tag des Einmarsches der Wehrmacht in Österreich, am 12. März 1938 wird Seitz von den Nationalsozialisten verhaftet. Im Polizeigefängnis fragt ihn ein SS- Mann: „Sind Sie nicht der ehemalige Oberbürgermeister von Wien, Dr. Karl Seitz?“ , worauf Seitz antwortete: „In den paar Worten, die Sie da geredet haben, sind nicht weniger als drei Fehler. Erstens bin ich kein Doktor, sondern ein ganz gewöhnlicher Volksschullehrer, zweitens bin und war ich kein Oberbürgermeister. So etwas gibt es in Deutschland. Hier in Wien haben wir es nur zu einem Bürgermeister gebracht, und der bin ich. Und drittens, ihr allergrößter Fehler: Ich bin kein ehemaliger, sondern ich bin der legal gewählte Bürgermeister von Wien, und einen anderen gibt es nicht.“

Der ehemalige Bürgermeister von Wien wird nach seiner Rückkehr aus dem KZ Ravensbrück am Rathausplatz von tausenden Menschen begrüßt.

Rückkehr nach Wien

Nach dem Stauffenberg Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wird Seitz neuerlich verhaftet. Sein Name steht auf jenem Telegramm, dass Oberst Hoeppner nach Wien schickt, um Seitz zum politischen Beauftragten für den Wehrkreis 17 zu ernennen. Seitz überlebt das KZ Ravensbrück und kehrt nach einer Odyssee am 23. Juni 1945 nach Wien zurück. Hunderttausend Menschen begrüßen ihren Bürgermeister mit einem festlichen Empfang am Rathausplatz. „Sie sehen aber gut aus, Herr Bürgermeister!“ ruft ihm eine junge Frau aus der Menge zu. „Im Gsicht fehlt mir ja auch nichts“ entgegnet der 76-jährige nach knapp 2 Jahren Haft im Konzentrationslager.

Doch Seitz kommt zu spät. Die Russen hatten Karl Renner in Gamlitz gefunden und bereits mit der Regierungsbildung beauftragt und im Bürgermeistersessel von Wien saß nun Theodor Körner. Karl Seitz war zwar in Abwesenheit zum Parteivorsitzenden gewählt worden, doch Adolf Schärf nutzte die Gunst der Stunde und seine Funktion als interimistischer Vorsitzender um sich schließlich im Dezember 1945 an die Spitze der Partei zu stellen. Seitz sei, nach seiner heißersehnten Heimkehr nach Wien, eine „unangenehme Enttäuschung“ gewesen, so Schärf.

Vergessen und Verdrängt

Das Verdrängen ist geblieben. Außer dem Karl-Seitz-Hof in Floridsdorf gibt es keine einzige Straße, keinen Platz der seinen in Wien seinen Namen trägt. An seinem ehemaligen Wohnhaus, der Rathausstraße 13 sucht man vergeblich nach einer Gedenktafel. Lediglich das Logo einer Studentenverbindung ist sichtbar. Eine Statue des ehemaligen Bürgermeisters steht am Universitätsring zwischen Burgtheater und Rathaus. Doch auch hier siegt die Symbolik. Vergessen steht die Statue im Rathauspark verdeckt hinter einem Gastronomiebetrieb der hauptsächlich Touristen bewirtet. In den 20er Jahren kamen Delegationen aus der ganzen Welt um Karl Seitz zu treffen, um sich die Errungenschaften des Roten Wien anzusehen und erklären zu lassen. Bis heute wirkt seine Politik in Wien nach. Zeit dem Vergessenen zu Gedenken.

 

Am 5. September gibt es anläßlich des 150. Geburtstags von Karl Seitz in der Buchhandlung Ortner in der Tigergasse einen Vortrag über sein Leben: https://www.facebook.com/events/648969502179913/

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