Zum 140. Geburtstag von Karl Seitz
Karl Seitz, der große Wiener Bürgermeister und erste Staatspräsident der Republik feiert am 4. September seinen 140. Geburtstag. Höchste Zeit für ein würdiges Gedenken.
In der Weltstadt Wien spürt man an allen Ecken den Atem der Geschichte. Straßen und Plätze tragen die Namen weltbekannter Künstler und wichtiger Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik. Keine andere Stadt hat in den 20er Jahren mehr Nobelpreisträger hervor-gebracht als Wien. Trotz der wirtschaftlichen Probleme erlebte die Stadt eine Blütezeit der Literatur, der Architektur und des intellektuellen und politischen Diskurses.
Ein Name ist mit der Geschichte der 1. Republik untrennbar verbunden: Karl Seitz, erster Staatspräsident und langjähriger Bürgermeister von Wien.
Karl Seitz wächst als „Kostkind der Gemeinde“ in Wien auf, besucht das Lehrerseminar in St. Pölten und wird Volksschullehrer. Bereits in jungen Jahren fällt Seitz durch seine Rhetorik und seine scharfen Reden auf und macht sich dadurch nicht nur Freunde.
1901 gelingt überraschend der „kühne Versuch eine Bresche in die geschlossene Front der Luegerei zu schlagen“. Seitz zieht mit einem Floridsdorfer Mandat in den Reichsrat ein. Der amtierende Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger entwickelt sich in Debatten, in Bildungsfragen und in zahlreichen Diziplinarverfahren zum schärfsten Widersacher des aufstrebenden jungen Politikers. Ab 1902 kann Seitz seine rhetorischen und politischen Kenntnisse als einziger sozial-demokratischer Abgeordneter im Nieder-österreichischen Landtag schärfen.
Am 21. Oktober 1918 konstituiert sich im Niederösterreichischen Landhaus die Nationalversammlung. Seitz wird per Zuruf zum Präsidenten bestimmt. Nach der Wahl 1919 wird Seitz auch erstes Staatsoberhaupt der jungen Republik.
Pazifist und Demokrat
Karl Seitz ist zeitlebens Pazifist, Gegner des Militarismus und ein überzeugter Verteidiger der Demokratie. Bereits 1902 kritisiert Seitz die ungeheuren Militärausgaben zu Lasten des Bildung- und Gesundheitssystems, setzt sich für unterprivilegierte und für die Arbeiter-schaft ein, tritt gegen Kinderbeschäftigung auf und fordert das allgemeine Frauenwahlrecht. Als konsequenter Gegner der Todesstrafe fordert Seitz regelmäßig deren Abschaffung. Forderungen und Ideen, die zur Zeit der Habsburgmonarchie zur Jahrhundertwende mit Kurienwahlrecht und Adelsprivilegien geradezu revolutionär sind.
Im größten Experiment der Welt kann Karl Seitz diese sozialen Konzepte als Bürgermeister von Wien in die Realität umsetzen.
Baumeister des „roten Wien“.
1923 übernimmt Karl Seitz das Bürgermeisteramt von Jakob Reumann. In den 11 Jahren seiner Amtszeit bis zu seiner Verhaftung durch das Regime Dollfuß entstehen 60,000 Gemeindewohnungen für 220,000 Wienerinnen und Wiener. Nicht nur sozial sondern auch architektonisch großartige Bauwerke wie der Rabenhof, der Victor-Adler-Hof, der Reumannhof und die Wohnhausanlagen Sandleiten und Friedrich-Engels-Platz werden zu Vorzeigeobjekten Wiener Kommunal-politik. Am 12. Oktober 1930 eröffnet Karl Seitz den Karl-Marx-Hof („Hofburg des Volkes“) mit den Worten: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“
Im September 1926 übernimmt die Gemeinde Wien das Denkmal des Altbürgermeisters auf dem Dr.-Karl-Lueger-Platz. Seitz spricht eine respektvolle Eröffnungsrede für seinen lanjährigen politischen Gegner in Parlament und Landtag.
Seitz, Breitner, Tandler, Glöckel. Dreamteam der 20er Jahre.
Die Elektrifizierung der Wiener Stadtbahn, der Bau des modernsten Stadions Europas (Praterstadion 1928-1931), das größte Hallenbad des Kontinents (Amalienbad), die Schulreform von Otto Glöckel mit der Forderung nach einer Einheitsschule (diese Idee beschäftigt die Politik als „neue Mittelschule“ bis heute), die Neugestaltung der Wasserversorgung und vieles mehr werden in der Ära Seitz im “roten Wien” entwickelt oder Realität. Die Einrichtung von Mutterberatungsstellen sowie ein kostenloser Kindergarten von 7h bis 18h(!) gehen auf seine Zeit als Wiener Bürgermeister zurück. Die größte Radiumanlage der Welt und der erfolg-reiche Kampf gegen Kindersterblichkeit und die „Wiener Krankheit“ (Tuberkulose) bringen unzähligen Menschen Hilfe und Heilung. Seitz hatte von seinem Vorgänger Reumann ein hochkarätiges Expertenteam übernommen um: Finanzstadtrat Hugo Breitner („Breitnersteuer“), Prof. Dr. Julius Tandler, Mitbegründer der weltberühmten Wiener medizinischen Schule oder der Bildungsreformer und Stadtschulrats-präsident Otto Glöckel liefern die neuen und ideenreichen Konzepte, die Seitz „nur mehr auf ihre Verwirklichung geprüft und für die Durchführung gesorgt“ habe, wie er bescheiden anmerkte .
Karl Seitz und seine Stadträte haben in der Gemeinde Wien eines der größten Werke sozialen Aufbaues zuwege gebracht, ohne Zwang, ohne Diktatur, im Namen der Demokratie. Erstaunlich, wie wenig diese Namen den Wienerinnen und Wienern im 21. Jahrhundert bekannt sind.
Wendejahr 1927
Das Jahr 1927 war in mehrfacher Hinsicht ein Wendejahr für den 57jährigen Bürgermeister. Bei den Gemeinderats-wahlen in Wien erhält Seitz knapp 61% der Stimmen und wird als Wiener Bürgermeisters bestätigt. Die österreichische Demokratie der Ersten Republik hatte ihren Zenit aber bereits überschritten.
Am 15. Juli 1927 eskaliert eine Demonstration gegen das „Schattendorfer Urteil“ und endet mit einem brennenden Justizpalast, mit 89 Toten und hunderten Verletzten. Karl Seitz hatte vergeblich versucht, die aufgebrachte Menge zu beruhigen und auf einem Löschwagen stehend, der Feuerwehr einen Weg durch die aufgebrachten Maßen zum brennenden Justizpalast zu bahnen. Polizei und Schutzbund waren von der Wucht der Auseinandersetzungen über-rascht worden. Der „blutige Freitag“ stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der 1. Republik dar. Im gleichen Jahr wird ein Schussattentat auf Seitz verübt, bei dem er jedoch unverletzt bleibt.
Austrofaschismus und Nationalsozialismus
Am 12. Februar 1934 wird Karl Seitz gewaltsam aus seinem Bürgermeisterbüro heraus verhaftet. Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes, bei dem Seitz als Wiener Bürgermeister zahlreiche Klagen gegen die Verordnungen des autoritären Regime Dollfuß eingebracht hatte, die gewaltsame Zerschlagung der ihm so wertvollen Demokratie, konnte er nur noch aus der Haft beobachten. Im Dezember wird Seitz enthaftet, bleibt aber unter ständiger polizeilicher Bewachung, darf weder Rundfunkapparat noch Telefon benutzen. Jede Korrespondenz ist „der polizeilichen Aufsicht zu unterbreiten“. Seine Spaziergänge durch Wien, die ihm nur auf bestimmten Routen und in ständiger polizeilicher Begleitung gestattet sind, werden zu einem politischen Statement. Tag für Tag spaziert Seitz mit würdiger Ruhe und liebenswürdiger Gelassenheit durch die Straßen der Stadt und stellte damit eine ständige Provokation für das austrofaschistische System dar.
Im März 1938 gehört Seitz zu den ersten, die nach dem Einmarsch der National-sozialisten verhaftet werden. Seitz hat sich – im Gegensatz zu anderen Sozial-demokraten wie zB. Karl Renner – immer geweigert, den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich zu begrüßen.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli 1944 wird der 74-jährige Seitz neuerlich verhaftet und ins KZ Ravensbrück deportiert. Erst im Sommer 1945 kehrt er krank und geschwächt nach Wien zurückkehrt. Am 23. Juni 1945 bereiten ihm tausende Wienerinnen und Wiener am Rathausplatz einen triumphalen Empfang.
Einen letzten Großen Auftritt hat der Ehrenbürger der Stadt Wien im März 1946 im Nationalrat: in einer vielbeachteten Rede appelliert Seitz eindringlich an die vier Besatzungsmächte „uns unsere demokratische Freiheit, Gesetze zu beschließen, zu belassen, so wie dieses Recht jedes Parlament hat.“ Den österreichischen Gesetzen war eine Sanktionsklausel der Allierten voran-gestellt („Diese Maßnahme tritt nicht früher in Kraft, als sie nicht die Genehmigung des Allierten Rates erhalten hat.“), welche Seitz auf das heftigste kritisierte. Der 76-jährige Alterspräsident des Nationalrates war sein Leben lang ein Kämpfer für die Demokratie geblieben, „um dem Volk für alle Zeiten das Recht zu sichern, seine Angelegenheiten selbständig zu regeln.“4
Abschied von Karl Seitz
Karl Seitz stirbt am 3. Februar 1950 friedlich in seiner Wohnung, fünf Monate nachdem ganz Wien seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte. Neben seinen Freunden Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer erhält er ein Ehrengrab am Zentralfriedhof. Am 28. April 1962 enthüllt Franz Jonas das Bronzestandbild von Karl Seitz im Rathauspark mit Blick auf das Burgtheater. Das Denkmal des ersten Staatsoberhauptes der Republik, des großen Bürgermeisters von Wien, nach dem keine Straße, kein Platz, kein Abschnitt der Ringstraße benannt wurde steht – als wäre es eine Ironie des Schicksals – am Dr.-Karl-Lueger-Ring.
Obwohl die sozialen und architektonischen Spuren dieser Zeit im heutigen Wien, trotz zahlreicher Tilgungsversuche in den Jahren 1934-1945, präsent und unübersehbar sind, ist es erstaunlich wie wenig diese Errungenschaften der 1. Republik im Bewusstsein der heutigen Generation verankert sind. Karl Seitz hat es, bei aller Bescheidenheit, nicht verdient in Vergessenheit zu geraten.